Fabian ist sapiosexuell

Als Sebastian seinem Freund Fabian im Sommer 2015 von dem Neologismus Sapiosexualität erzählt, ist dieser mehr als skeptisch.

Bis er am eigenen Leib erfährt, was es heißt von einem intelligenten Gespräch sexuell erregt zu werden.

(Anmerkung der Autorin: Die Namen wurden geändert, da die Personen anonym bleiben möchten.)

"Was für eine Sexualität?"​

Von der Sapiosexualität hat Fabian über einen guten Freund erfahren. Sebastian und er hatten schon immer einen guten Draht zueinander.
Sie können sich stundenlang unterhalten und vergessen dabei ihre Umgebung, von der Zeit ganz zu schweigen.

Des öfteren verpassen sie so Treffen mit Freunden, Tischreservierungen und sogar Konzertkarten haben sie schon verfallen lassen.
Nicht absichtlich natürlich. Und das Handy haben sie während ihrer Gespräche ohnehin immer lautlos.

An den Tag, an dem ihm Sebastian über den Neologismus erzählt hat, kann sich Fabian nicht mehr so genau erinnern. Es muss irgendwann im Sommer 2015 gewesen sein. Nur ein kurzer Wortwechsel ist ihm im Gedächtnis geblieben. 

“Was für eine Sexualität?”, fragt Fabian irritiert. “Sapio.”, erwidert Sebastian. “Sapiosexuelle Menschen fühlen sich durch die Intelligenz eines anderen besonders angezogen. Angeblich werden sie davon eben auch sexuell erregt.”

Fabian bleibt skeptisch und schließlich nimmt das Gespräch eine andere Richtung.

Sapiosexualität - für Fabian ein nachvollziehbarer Begriff
Sapiosexualität - wenn die Intelligenz eines anderen sexuell erregt

Das Thema lässt Fabian nicht los

Doch in der darauffolgenden Zeit kommt Fabian der Begriff immer wieder ins Gedächtnis, er merkt es arbeitet in ihm. Er setzt sich an den PC und durchforstet das Internet nach Informationen über Sapiosexualität. Gibt es das wirklich und gibt es Menschen, die davon berichten?

Er findet kaum etwas darüber, nur ein paar Posts in den sozialen Netzwerken und kurze, skeptische Beiträge von Online-Medien, überwiegend aus dem englischsprachigen Raum.

Woher kommt der Begriff?

Das Wort "Sapiosexualität" leitet sich aus dem lateinischen Wortstamm "sapio" = weise ab. 

Doch wie entstand der Neologismus und welche Informationen darüber finden sich heute im Netz?

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"Kann ich es mir vorstellen?"

Fabian denkt über das nach, was er gelesen hat und überlegt, was es für ihn bedeuten könnte. Ob es auf ihn zutrifft? Erfährt er sexuelle Erregung durch die Intelligenz eines anderen?

Wie könnte sich das wohl anfühlen? Hängt das sexuelle Empfinden dann nicht auch mit dem eigenen Intellekt oder Wissen zusammen? Fabian versucht es sich vorzustellen und beginnt seine Untersuchung also bei sich selbst – einem Menschen, den er glaubt zu kennen. 

Wenn er sich neues Wissen aneignet und Zusammenhänge herstellen kann, gibt ihm das ein richtig gutes Gefühl. Aber sexuelle Erregung?

Fabian überlegt, wie das in der Interaktion mit anderen ist. Klar führt er anregende Gespräche, in denen er neue kognitive Einsichten bekommt, gemeinsam Schlüsse zieht und sich mit dem anderen freut, wenn sie etwas verstanden oder durchdacht haben. Besonders mit Sebastian. Aber sexuelle Erregung? Er ist ja auch nicht homosexuell.

Fabian merkt, dass er durch pures Grübeln auf keinen grünen Zweig kommt und beschließt Sebastian auf das Thema anzusprechen. Der hat ihm schließlich von dem Neologismus Sapiosexualität erzählt. Warum er das wohl getan hat? Fühlt er sich etwa sapiosexuell?

Der erste Schritt in eine neue Erfahrung

Bei der nächsten Gelegenheit schneidet Fabian das Thema an. Und an diesen Tag, an diese Stunden im Sommer 2015 kann er sich genau erinnern.

Sie hatten sich zum Grillen verabredet, Fabian hatte Steaks und Jim Beam besorgt, Sebastian die Ofenkartoffeln und das Grillgemüse vorbereitet. Als die Steaks auf dem Grill brutzeln und die Eiswürfel im Whiskeyglas klirren, hält er den Zeitpunkt für günstig, um Sebastian darauf anzusprechen. 

„Grau, treuer Freund, ist alle Theorie“​[1]

Ganz neutral reden sie zunächst darüber. Sie erzählen einander, was sie im Netz zur Sapiosexualität gefunden haben, was Sexualität überhaupt ist und wie weit die Naturwissenschaften in der Forschung bereits gekommen sind. 

Doch Fabian reicht das nicht, die Theorien und Forschungsarbeiten zu Sexualität und Partnerschaft befriedigen seine Neugierde nicht. Schließlich ist Sexualität doch etwas sehr persönliches, wie soll man da aus schwarzen Zeichen auf weißem Grund eigene Eindrücke sammeln?! Die Diskussion wird hitzig, sie sind sich nicht einig. 

Auch Noten sind schwarze Zeichen auf weißem Grund - erst durch die Praxis erklingt Musik.
Auch Noten sind schwarze Zeichen auf weißem Grund, erzählen eine Geschichte und vermitteln Emotionen.

“Mir reicht es nicht, das Thema nur in der Theorie zu beleuchten!” ruft Fabian schließlich, “Was ist denn all die graue Theorie, wenn ich in der Praxis keine Ahnung habe?” Sebastian sieht ihn an. Stille entsteht. Fabian merkt, dass er einen wunden Punkt getroffen hat. Dass da tatsächlich mehr ist. Und plötzlich finden sich die beiden Freunde auf der Couch wieder, gierig darauf die Hitze der Diskussion körperlich abzulassen.

War das eine sapiosexuelle Erfahrung?

Sie haben sich im wahrsten Sinne des Wortes heiß geredet. Obwohl sie sich zu dem Zeitpunkt beide nicht als homosexuell betrachten. Oder bi. 

Wenn Fabian heute auf die Zeit zurückblickt, lacht er ungläubig und ein wenig verlegen. Was an diesem Tag zwischen ihnen passiert ist, hat sich nie wiederholt. Im Gegensatz zu Fabian fühlt sich Sebastian inzwischen als aktiver Bisexueller wohl. Aber das tut ihrer Freundschaft keinen Abbruch. Nach wie vor führen sie lange Gespräche, diskutieren über die verschiedensten Themen und verpassen gemeinsame Verabredungen.

Aber war das nun eine sapiosexuelle Erfahrung? Fabian denkt schon. Es war ein erster Schritt, ein erstes Ausprobieren. Diesen Punkt, an dem die Stimmung von intellektuellem Austausch oder Diskussion in körperliche Begierde umschwingt, hat er seit dem Tag im Sommer 2015 öfters erlebt.

Sapiosexualität ist subjektiv!

Für Fabian ist Sapiosexualität etwas sehr individuelles. Sie statistisch zu messen hält er schlicht für unmöglich.

Das liegt seiner Meinung nach an den unterschiedlichen Wahrnehmungen von Intelligenz:

“Wie intelligent mein Gegenüber auf mich wirkt hängt immer damit zusammen, für wie intelligent ich mich selbst halte und wie ich Intelligenz definiere. Und da Sapiosexualität direkt mit der Einschätzung der Intelligenz meines Gegenübers zusammenhängt, ist auch sie etwas subjektives und kann – denke ich – sehr unterschiedlich ausfallen.”

Die Studie

Ende 2017 veröffentlichte Gilles Gignac, Psychologe und Dozent an der University of Western Australia, eine Forschungsarbeit zum Thema Sapiosexualität. 

In dieser untersuchte er, ob es sich nur um eine sprachliche Modeerscheinung handelt oder eine tatsächlich nachweisbare sexuelle Vorliebe.

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Was bedeutet Intelligenz für Fabian?

Seine eigene Auffassung von Intelligenz beschreibt Fabian als Konglomerat aus geistiger Stimulanz, emotionalem Einfühlungsvermögen und Humor im Gesprächsfluss.

Dafür sollte es natürlich eine gemeinsame Basis an Gesprächsthemen geben oder zumindest ähnliche Interessensgebiete. Bei ihm sind das z.B. Themen aus den Bereichen der Philosophie und Psychologie.

Humor spielt für Fabian eine tragende Rolle, er steht auf Wortspiele, das Verbinden scheinbar völlig unterschiedlicher Themen und darauf “auch einfach mal vor sich hin zu spinnen, abstruse Ideen zu entwickeln und sich über die Ergebnisse kaputt lachen zu können.”.

Die "erotische Gehirnmassage"

Doch wo fängt nun die Sexualität an bzw. was daran ist speziell sapiosexuell? Gute, humorvolle Gespräche führt schließlich jeder von uns gern, egal über welche Themen und ohne dass jedes mal Sex im Spiel wäre. 

Fabian fällt es schwer, exakt den Finger darauf zu legen. Er beschreibt einen Punkt während mancher Gespräche, an dem es sich so anfühlt, als würde sein Gehirn massiert; ein Punkt an dem sein Denken so intensiv gefordert wird, dass er regelrecht spürt, wie seine Gehirnwindungen arbeiten. 

Fühlt sich Sapiosexualität an, wie eine Gehirnmassage?
"Smithers, massieren Sie mein Gehirn!"

Er nennt das “erotische Gehirnmassage”. Ist dieser Punkt erreicht, genügt ein kleiner Funke, um körperliche Reaktionen zu entzünden.

"Ich will diese Erfahrung mit mehr als einem Menschen teilen."

Eine feste Partnerin hat Fabian für die gewissen Gesprächsstunden jedoch nicht, er möchte auch keine langfristig ausgerichtete Zweierbeziehung. Momentan trifft er sich regelmäßig mit zwei Frauen, mit denen er diesen gewissen Punkt im Gespräch erreicht, an dem er sexuell erregt wird. Und er ist immer auf der Suche nach weiteren Menschen, mit denen er diese Erfahrung teilen kann.

Reaktionen der Öffentlichkeit

Mit der öffentlichen Meinung über sapiosexuelle Menschen will sich Fabian nicht mehr näher beschäftigen. Für ihn ist es zweitrangig, welche sexuelle Orientierung oder Neigung gerade “en vogue” oder “passé” ist. Er weiß inzwischen was er will, worauf er bei Partnern wert legt und wo bei ihm platonische Freundschaft aufhört und sexuelles Verlangen anfängt.

"Vollkommen überzogene Reaktionen"

Deshalb hat Fabian auch nichts mitbekommen von der Aussage Mark Ronsons bei Good Morning Britain sowie den Reaktionen in den sozialen Netzwerken und online Medien. (siehe „Der Begriff – Missverstanden in 2019„) Eine Diskriminierung weniger intelligenter Menschen kann er in der Sapiosexualität nicht erkennen. Da für ihn Intelligenz nicht zwingend mit besonders hohem IQ oder Bildungsstand zusammenhängt, sieht er auch die Sapiosexualität nicht daran gebunden.  Wie diese spezielle sexuelle Neigung die Bemühungen der Queer-Community herabsetzen sollte kann er gar nicht begreifen und ärgert sich darüber: “Das ist genau der Grund, warum ich über das Thema sexuelle Orientierungen oder Neigungen im Netz nichts mehr lesen mag. Menschen bilden sich eine Meinung über etwas oder jemanden, ohne wirklich zu wissen oder überhaupt nachzufragen, worum es geht oder wer die Person ist, über die sie urteilen.“

Schlechte Erfahrungen und der Reiz des ersten Gesprächs

Fabian spricht dabei aus Erfahrung – schiefe Blicke und ungläubiges Lachen waren die harmlosen Reaktionen, wenn er sich in der Vergangenheit als sapiosexuell bezeichnet hat. Deshalb lässt er das bei Dates und neuen Bekanntschaften lieber erst einmal sein. 

Außerdem empfindet er es inzwischen als reizvoller, innerhalb des ersten Gesprächs besonders viel über sein Gegenüber erfahren. Er will lieber auf diesem Weg herausfinden, ob da auch so eine Person sitzt, die wie er den Kick der “erotischen Gehirnmassage” sucht. Und ob sie diesen Kick zusammen erleben können.

Quellenverzeichnis

Bilderverzeichnis